Ein Schuldenschnitt ist unvermeidlich

George Buid/ZUMA Press/picture alliance
Demonstranten auf den Philippinen fordern Mitte 2022 angesichts der Pandemie und der Wirtschaftskrise Schuldenerleichterungen von den G7-Ländern, deren Staatschefs gerade in Elmau in Deutschland tagen.
Schuldenkrise
Viele Entwicklungsländer sind untragbar verschuldet – nicht zuletzt weil nach Jahren des billigen Geldes im Norden die Zinsen steigen. Das übliche Schulden­management genügt nicht mehr.

Auf der Frühjahrstagung des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank in Washington, D.C. im April hofften die Regierungen, man könne einen Weg finden, eine neue Schuldenkrise der Entwicklungsländer wie die in den 1980er Jahren abzuwenden. Die hatte damals zu dem berüchtigten verlorenen Jahrzehnt in Lateinamerika und Afrika geführt. 

In den vergangenen drei Jahren war eine Reihe von Zahlungsausfällen beim Schuldendienst schon ein Alarmsignal für eine möglicherweise noch größere Implosion. Mit einer Schuldenlast von 324 Milliarden US-Dollar, das entspricht 90 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, ist Argentinien im Mai 2020 in Zahlungsverzug geraten. Im November 2020 versäumte Sambia eine Zahlung von 42,5 Millionen Dollar für eine Euro-Anleihe. Es folgten Zahlungsausfälle in Sri Lanka, Surinam und dem Libanon. Der in Sri Lanka vor gut einem Jahr machte schließlich die ganze Welt darauf aufmerksam, wie brisant die sich abzeichnende Schuldenkrise im globalen Süden ist. Doch die Frühjahrstagung endete ohne klaren Fahrplan für die Bewältigung der heutigen Krise.

Eine verblüffende Ähnlichkeit zwischen den 1970ern und den vergangenen Jahren ist, dass auf eine Zeit des billigen Geldes und leichtfertiger Kreditvergabe jetzt ein Regime des knappen Geldes und hoher Zinsen folgt. Wegen der von der globalen Finanzkrise 2008 verursachten Rezession senkte die Notenbank der USA damals den Leitzins, um Firmen zur Aufnahme von Krediten und zu Investitionen zu ermutigen und so die US-Wirtschaft wieder anzukurbeln. Aber die großen westlichen Banken suchten daraufhin höhere Renditen in anderen Weltgegenden und lockten dort Regierungen oder andere staatliche Kreditnehmer mit niedrigen Zinssätzen. Auch private Investoren suchten aus der Lage Profit zu schlagen: Sie kauften Anleihen von Entwicklungsländern, deren Renditen höher waren als die von US-Staatsanleihen, die aber auch ein höheres Risiko bargen.

Die Illusion eines anhaltenden Wirtschaftswachstum platzt

Mit anderen Worten: Von der Stagnation in den USA und der Rezession in Europa entmutigt, zogen skrupellose Geldverleiher in den globalen Süden. Und obwohl dort der Schuldenstand im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) weiterhin recht hoch war, erlagen die Regierungen der Entwicklungsländer der Verlockung von anscheinend attraktiven Kreditbedingungen. Sie gaben sich der Illusion hin, anhaltendes Wirtschaftswachstum werde die für die Rückzahlung der Schulden nötigen Finanzmittel generieren. 

Diese Illusion platzte, als 2020 mit der Corona-Pandemie der Welthandel in eine Abwärtsspirale geriet, Gesundheitssysteme kollabierten und mit viel Geld von den Regierungen gerettet werden mussten, Ernährungskrisen ausbrachen und das Wirtschaftswachstum zum Stillstand kam. Die Reserven der Entwicklungsländer schwanden, aber die Rückzahlungsraten an die Kreditgeber gingen weiter – die Länder steckten in der Zwickmühle. 2021 zeichnete sich der Weg in eine neue Schuldenkrise der Entwicklungsländer ab. Beschleunigt wurde das durch den vom Krieg in der Ukraine ausgelösten scharfen Anstieg der Öl- und Lebensmittelpreise.

Ein Schuldenmoratorium und ein fehlgeschlagenes Schuldenerlass-Programm

Die multilaterale Antwort war ein Schuldenmoratorium, die im Rahmen der G20-Staaten beschlossene Debt Service Suspension Initiative (DSSI). Für begünstigte Staaten wurden Schuldenrückzahlungen von Mai 2020 bis Dezember 2021 ausgesetzt. 48 von 73 berechtigten Ländern nutzten das. Laut Weltbank wurden im Rahmen der Initiative 12,9 Milliarden US-Dollar (11,8 Milliarden Euro) an Schuldendienstzahlungen gestundet. Allerdings beteiligte sich nur ein einziger privater Geldgeber.

Neben der DSSI schufen die G20, der IWF und die Weltbank das sogenannte Common Framework, das als Blaupause für künftige Schuldenerlasse dienen sollte. Doch es erwies sich als Reinfall. Nur vier Länder – Sambia, Tschad, Äthiopien und Ghana – nahmen es in Anspruch, und nur der Tschad konnte den Prozess abschließen.

Autor

Walden Bello

ist Co-Vorsitzender des Vorstands von Focus on the Global South, einer aktivistischen Denkfabrik mit Sitz in Thailand. Er forscht zurzeit am Center of Southeast Asian Studies der Universität Kyoto und lehrt Soziologie an der State University of New York. Seine jüngsten Bücher sind „Revisiting and Reclaiming Deglobalization“ (2019) und „Counterrevolution: The Global Rise of the Far Right“ (2019).
Drei Faktoren erklären, warum das Programm nicht aus den Startlöchern kam. Der erste war, so ein Experte in der „New York Times“, „der zermürbende Prozess, an dem Gläubigerausschüsse, der Internationale Währungsfonds und die Weltbank beteiligt sind; alle verhandeln und müssen sich darauf einigen, wie die Kredite der Länder umgeschuldet werden können“. Der zweite Faktor war, dass private Banken und Inhaber von Staatsanleihen der Entwicklungsländer zögerten oder sich weigerten, sich an dem Programm zu beteiligen. Und drittens scheuten die teilnahmeberechtigten Länder im Süden die politischen Folgen, die es hätte, wenn sie eine bereits unter den Corona-Folgen leidende Bevölkerung mit weiteren IWF-Sparmaßnahmen belasten würden.

Kapitalflucht aus dem Süden zurück in die In­dus­trie­län­der

In dieser bereits kritischen Lage begannen die Zentralbanken der USA und anderer westlicher Staaten 2022, aggressiv die Leitzinsen zu erhöhen, um die Inflation in ihren Ökonomien einzudämmen und den US-Dollar zu stärken. Das führte zu einer Kapitalflucht aus dem Süden zurück in die In­dus­trie­län­der. Allein im Juni 2022 flossen vier Milliarden US-Dollar aus Anleihen und Aktien der Schwellenländer ab. Infolge der Zinsanhebungen hat sich die Zahl der Schwellenländer, deren Anleihen auf „Notstandsniveau“ gehandelt werden – das heißt ihre Verzinsung liegt mehr als zehn Prozentpunkte über der von anderen Staatsanleihen mit vergleichbarer Laufzeit –, in nur sechs Monaten mehr als verdoppelt. Von Entwicklungsländern ausgegebene Anleihen verloren stark an Wert; das veranlasste Investoren, sie mit Verlust abzustoßen: mit hohen Preisabschlägen von 40 bis 60 Cent pro US-Dollar. 

Nun war energisches Handeln gefragt. Schon ein kurzer Blick auf einige der am höchsten verschuldeten Länder zeigte schnell: Die hohen anstehenden Schuldenzahlungen konnten unmöglich beglichen werden. So hatte Ägypten zwischen November 2022 und Februar 2023 Schuldendienstzahlungen in Höhe von rund sieben Milliarden US-Dollar zu leisten, Pakistan von Mitte 2022 bis Mitte 2023 mindestens 41 Milliarden Dollar. Da der Handel wegen der anhaltenden ökonomischen Folgen der Corona-Pandemie zurückging und so weniger Dollar ins Land flossen, machten der Auslandsschuldendienst in über 25 Entwicklungsländern mehr als ein Fünftel der gesamten Staatseinnahmen aus.

Trotz der Vorwarnungen gibt es bisher kein Konzept, um den drohenden Zusammenbruch abzuwenden. Das von den G20, der Weltbank und dem IWF entwickelte sogenannte Common Framework ist völlig unzureichend. Stattdessen haben sich die westlichen Finanzmächte darauf verlegt, die Schuld auf China und seine Praxis der Kreditvergabe abzuwälzen.

Chinas Entschuldungsinitiativen

Dabei gibt es für diesen Vorwurf wenig Grundlagen. Tatsächlich hat China armen Ländern ziemlich großzügig Schulden erlassen, insbesondere in Afrika. Es gibt keine vollständige Auflistung von Chinas Entschuldungsinitiativen, aber verschiedene Berichte bestätigen, dass sie erheblich sind. Eine Untersuchung des unabhängigen Forschungsinstituts Rhodium Group ergab, dass seit dem Jahr 2000 in 40 Fällen chinesische Kredite mit einer Gesamthöhe von 50 Milliarden US-Dollar in 24 Ländern nachverhandelt wurden. Laut der US-amerikanischen Politologin Deborah Brautigam, einer der verlässlichsten Quellen zu Chinas Krediten an Entwicklungsländer, hat China zwischen 2000 und 2019 Schulden Afrikas in Höhe von rund 15 Milliarden US-Dollar umstrukturiert oder umgeschuldet. Zuletzt hat China im August 2022 bekannt gegeben, dass es 17 afrikanischen Staaten die Rückzahlung von insgesamt 23 Krediten erließ.

Kurz vor dem IWF-Weltbank-Frühjahrstreffen hat ein Forschungsbericht Chinas Behauptung gestützt, es bemühe sich, verschuldeten Ländern entgegenzukommen: Brautigam und Yufan Huang von der China-Afrika-Forschungsinitiative hatten untersucht, welcher Kreditgeber im Rahmen der DSSI die meisten Schulden erließ. Demnach entfallen auf chinesische Geldgeber „30 Prozent der Forderungen, und sie trugen 63 Prozent des Schuldenerlasses in den Ländern bei, die die DSSI nutzten“. Das Forscherteam kam zu dem Schluss, China erfülle „seine Rolle als verantwortliches G20-Mitglied gut“; Peking „setze die Mindestanforderungen der DSSI recht gut um, kommuniziere mit anderen Beteiligten und halte Zusagen ein“.

Die Schuldengespräche bei den Frühjahrstreffen waren aber nicht komplett unproduktiv. Das lag an einer Kursänderung Chinas: Es erklärte sich bereit, sich an einer neuen, lose koordinierten Initiative zu einem Runden Tisch zu beteiligen, dem Global Sovereign Debt Roundtable, kurz GSDR. Hier sitzen die Schuldnerländer mit den Gläubigerländern am Tisch – anders als bei anderen multilateralen Gremien wie dem Pariser Club und dem Common Framework der G20, die es den Kreditnehmern erlauben, ihren Fall vorzutragen, sie dann aber von den Diskussionen ausschließen. 

Diskussionsclub oder mutiger Neuansatz?

Die sechs an der ersten Runde des GSDR beteiligten Länder sind Ecuador, Surinam, Äthiopien, Sambia, Ghana und Sri Lanka. Laut einem Bericht über eine GSDR-Sitzung am Rande der Frühlingstreffen „kündigte der Gouverneur der Chinesischen Zentralbank, Yi Gang, an, sein Land werde bei der Umschuldung von Krediten an ärmere Länder in Höhe von Milliarden US-Dollar flexibler sein, er machte aber keine konkreten Zusagen, den Restrukturierungsprozess zu beschleunigen. Das löste die festgefahrene Lage unter den Gläubigerstaaten auf in der Frage, wie die Schulden der ärmeren Staaten neu verhandelt werden können“.

Die Einrichtung des runden Tisches gilt als Schritt nach vorne. Es wird allerdings auch befürchtet, dass es eine reine Diskussionsrunde wird. Die drängende Frage ist: Gibt es eine Alternative zu dieser zurückhaltenden und vorsichtigen Initiative?

Tatsächlich könnte man die heutige Krise in eine Chance verwandeln. Gefragt ist nichts weniger, als die unsystematischen, konservativen und entwicklungsfeindlichen Entschuldungsprogramme, die zur Bewältigung der Krise in den 1970er und 1980er Jahren entwickelt wurden, durch einen mutigen, gerechten und wirksamen Neuansatz zu ersetzen: durch ein groß angelegtes Schuldenerlassprogramm im Rahmen eines Paradigmas der Transformation, das nachhaltige Entwicklung, radikale Bekämpfung von Armut und Ungleichheit sowie Klimagerechtigkeit unterstützt.

Die Lösung für das Schuldenproblem muss progressiv und drastisch sein

Erstens, der dringendste Schritt ist klar: Solange die Regierungen an einer Lösung arbeiten, was voraussichtlich Monate bis zu einem gewissen Konsens dauern wird, muss das Schuldenmoratorium von Ende 2021 verlängert werden. Zweitens bieten weder die vom IWF und der Weltbank dominierten multilateralen Treffen noch die G20 einen geeigneten Rahmen, um die Schuldenfrage zu lösen. Gebraucht wird ein stärker repräsentativer und demokratischer Rahmen – die verschuldeten Länder müssen sich gleichberechtigt beteiligen und es müssen verschiedenste Ansichten jenseits des immer noch vorherrschenden Washington-Konsenses vorgebracht werden können. Es ist Zeit für eine internationale Konferenz mit dem Ziel, eine progressive Lösung für die Schulden der Entwicklungsländer zu finden, möglicherweise unter der Schirmherrschaft der UN-Generalversammlung.

Drittens ist das Problems so groß, dass es eine drastische Lösung erfordert, die nicht allein die Schuldner für Zahlungsversäumnis verantwortlich macht, sondern auch die Gläubiger für leichtsinnige Kreditvergabe. Das UN-Entwicklungsprogramm fordert einen Schuldenschnitt (haircut) von 30 Prozent, also die Verringerung der ausstehenden Zahlungen für 52 der meistverschuldeten Länder von 2021 bis 2029. Das kann als Ausgangspunkt für Gespräche dienen, aber verhandelt werden sollte auch über noch höhere Nachlässe.

Viertens muss ein Programm für Schuldenerleichterungen der Tatsache Rechnung tragen, dass viele der hoch verschuldeten armen Länder auch die anfälligsten für Auswirkungen des Klimawandels sind. Der globale Norden hat eine ökologische Schuld bei ihnen zu begleichen, da er historisch für die bei weitem größte Menge an CO2-Emissionen verantwortlich ist. Angesichts dessen und der Tatsache, dass sie ihre ursprünglichen Schulden bereits mehrfach zurückgezahlt haben, sollte ein Schuldenerlass für die am wenigsten entwickelten Länder auf die Tagesordnung gesetzt werden.

Keine Sparpolitik, keine Strukturanpassung und keine Isolierung Chinas

Fünftens dürfen Umschuldungen nicht länger nur im Rahmen von Sparpolitik und Strukturanpassung stattfinden. Denn die haben Strukturen geschaffen, die Entwicklungsländer noch anfälliger für Schuldenkrisen machen. Gebraucht wird vielmehr ein Rahmenwerk, dass den Ländern hilft, sich umfassend und nachhaltig zu entwickeln und ihnen auch ermöglicht, sich Puffer für die schädlichen Auswirkungen einer zunehmend instabilen und unbeständigen globalen Wirtschaft zuzulegen.

Schließlich müssen die Regierungen aufhören, Schuldenverhandlungen als Forum für ihre geopolitischen Ziele zu benutzen. Speziell Washington darf nicht länger das System aus IWF, Weltbank und Pariser Club nutzen, um China zu isolieren. Das Schuldenproblem der Entwicklungsländer ist eine Krise von enormem Ausmaß. Aber es kann auch eine Chance sein, eine gerechtere Weltordnung zu schaffen.

Aus dem Englischen von Carola Torti.

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